| 09. November 2008 70. Jahrestag der Reichspogromnacht  | 
  
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| Mit dem Gedenken des 09. November 
      1938 verbindet sich nicht nur das Erschrecken und die Scham über das, 
      was an diesem Tag selbst geschah. Der 09. November 1938 ist darüber 
      hinaus die höllische Ouvertüre dessen, was in den folgenden 6 
      1/2 Jahren nicht nur in Deutschland, sondern bis an die Grenzen Europas 
      noch geschehen sollte. So formulierte Gideon Hausner, der ehemalige Vertreter 
      der Anklage im Eichmann Prozess: "Die kaltblütige, willkürliche 
      und systematische Vernichtung von Millionen hilfloser Zivilisten ist eine 
      Geschichte, für die uns die Worte fehlen. Denn Worte dienen dazu, menschliche 
      Erfahrungen zu vermitteln. Diese Taten jedoch überschreiten jedes Maß. 
      Sie spotten jeder Beschreibung, ihre Einzelheiten machen uns sprachlos." Tatsächlich verschlägt die Erinnerung die Sprache, wozu Menschen fähig sind; wie weit sich ein Volk aus dem Kreis der zivilisierten Nationen entfernen kann. Erst wenn das viele Reden aufhört, beginnt das Gedenken. Es ermöglicht das Nachdenken über den Ursprung und die Ursachen des Bösen. Es sucht nach Antworten auf das Unfassliche und hilft, Schlüsse zu ziehen. "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung", besagt ein jüdisches Sprichwort. Im Gedenken ist diese Chance auf Erlösung enthalten, denn Erinnerung stiftet ein Band zwischen den Opfern von damals und uns Heutigen - ein Band der Solidarität. Erinnerung zwingt den Blick auszuhalten in die schwarzen Abgründe des eigenen Herzens. In der schmerzhaften Erkenntnis der eigenen negativen Möglichkeiten - auch ich hätte auf der Seite der Täter stehen können - geschieht Läuterung. Läuterung geschieht auch beim Blick in die Hölle der KZs, wenn mein Blick zur Verinnerlichung fremden Leidens führt, nicht aber zu dessen Überwinden oder gar Vergessen. Gedenken verpflichtet zum Zeugnis. "Bevor wir sterben, ist es unsere Pflicht, den nach uns kommenden Generationen von jenen gotteslästerlichen Greueln zu berichten, deren Ziel es war, das jüdische Volk auszulöschen." Dazu ruft der im vergangen Jahr verstorbene Erzbischof von Paris, Kardinal Jean Marie Lustiger, selbst jüdischer Herkunft auf. Das wird umso brisanter, wie die Generation, die die Zeit des Nationalsozialismus noch miterlebt hat, auszusterben beginnt. Damit wächst die Gefahr, dass die Orte des Grauens zu Alltagserscheinungen werden, mit denen man am Ende leben kann, wie etwa mit dem Hermannsdenkmal oder dem Reiterstandbild Kaiser Wilhems am Deutschen Eck in Koblenz.Das Gedenken an die Schauplätze nationalsozialistischer Massenvernichtung muss stets eine verstörende Erinnerung bleiben, ein Dorn im Fleisch eigener Selbstzufriedenheit, ein glühendes Eisen, das die unzähligen Tragödien dauerhaft in das Gewissen jedes Einzelnen einbrennt. Im Gedenken geschieht ein vielleicht 
        nur hilfloses, nie ausreichendes, aber dennoch ernst gemeintes Zeichen 
        der Wiedergutmachung. Im Gedenken werden Namen bewahrt; Namen vor dem 
        Vergessen gerettet, die die Nazis gerade der Vergesslichkeit anheim geben 
        wollten. Wer ins KZ kam, bekam statt seines Namens eine Nummer. Aber der 
        Name - das wissen nicht nur Menschen, die auf einen Namen getauft sind 
        so wie wir, - der Name ist mehr als ein beliebiges Unterscheidungsmerkmal. 
        Noch einmal Kardinal Lustiger: "Gott schenkt dem Menschen die Gnade 
        und die Freude des Namens. Dort aber herrschte in jenen Jahren das Unbenennbare. 
        Die Lüge. Der Tod. Das Namenlose." Die Namen der Opfer, aber auch 
        die der Täter. Auch die Namen der Täter dürfen nicht vergessen 
        werden, mag man auch aus Ekel und Abscheu dazu geneigt sein. Denn wir 
        müssen uns bewusst bleiben: was sie taten, war nicht nur ein Verbrechen 
        gegen die Menschheit, - die das taten, waren auch Teil der Menschheit. 
        Die Schlächter von Auschwitz, Treblinka, Sobibor und Mauthausen waren 
        keine Monster, sondern Männer - und was leicht übersehen wird 
        : auch Frauen -, die Familie hatten, mit ihren Kindern spielten, Bücher 
        lasen, Musik hörten und Bilder betrachteten. Oder wie es Haim Ginott, 
        ein Überlebender des Holocaust ausdrückte: "Meine Augen 
        haben gesehen, was niemand je sehen sollte. Gaskammern, gebaut von gelernten 
        Ingenieuren, Kinder vergiftet von ausgebildeten Ärzten, Säuglinge, 
        getötet von geschulten Krankenschwestern. Frauen und Babys, erschossen 
        und verbrannt von Hochschulabsolventen.  Das Leben der Ermordeten können wir durch keine noch so ernst gemeinte Erinnerung zurückholen .Was bleibt, ist die Hoffnung, dass ihre Leiden und Sterben nicht vergeblich war. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass uns das Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus und überhaupt alle Opfer ungerechter Gewalt wachsam macht gegen dumme Sprüche und dumpfe Parolen, die Herz und Hirn vernebeln und die Hass und Verachtung säen. Und gerade weil die überwiegende Zahl der nationalsozialistischen Täter keine Monster waren, bleibt uns nichts anderes übrig, als die eigenen menschlichen Schattenseiten anzuerkennen und nach Gegenmitteln zu suchen. Diese Gegenmittel liegen im Dialog, in der Begegnung, im Austausch, im gemeinsamen Gedenken. "Gemeinsame Erinnerungen sind manchmal die besten Friedensstifter", meint der französische Schriftsteller Marcel Proust. 
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